Film

BALLET MÉCANIQUE.

Luru Kino in der Spinnerei, Spinnereistraße 7, 04179 Leipzig.

Interview mit dem Kurator Tilman Schumacher über die sowjetische Filmavantgarde auf Radio Corax (21.11.2017)

Flyer Luru

In Zeiten vorrangig digitaler Vorführ-praxis wollen wir euch im LURU-Kino in der Spinnerei mit unserer Stummfilm-Reihe BALLET MÉCANIQUE auch nach der Som-merpause wieder ein analoges Kon-trastprogramm bie-ten: Ausschließlich mit historischen Filmkopien auf 35mm-Material, die wir dieses Mal aus den Archiven des Arsenals und der Deutschen Kinemathek leihen, soll euch die Stummfilmepoche in einer ästhetisch wie technisch adäquaten Kinosituation und unter spezifischen Vorführbedingungen näher gebracht werden. Wie bereits in den ersten drei Teilen der Reihe (die sich von März 2016 bis Juni 2017 erstreckten) werden von September bis Dezember einmal monatlich mittwochs die analogen Projektoren für euch anlaufen – eine Erfahrung, die man außerhalb eines Filmmuseums mittlerweile kaum noch machen kann. Es ist uns wichtig, neben einer spannenden Auswahl an filmhistorisch relevanten (und mitunter schwer verfügbaren) Werken auch die Materialität und ästhetische Eigenheit dieses aus dem Kino-Alltag verschwundenen Mediums zu würdigen. Zudem setzen wir unseren bewährten, auf die Visualität des Films fokussierten Ansatz fort: Die Filme werden stumm, das heißt ohne musikalische Begleitung, zu sehen sein. Diese intensive, in Leipzig sonst nicht praktizierte Form der Vorführung entspricht zwar im Grunde nicht der historischen Vorgehensweise (ist somit eine Art Interpretation unsererseits) hat aber ihre ganz eigenen Vorzüge: Die rein bildliche Ebene des Films – das »ballet mécanique« – kann hierdurch besonders prägnant erfahren werden. Dessen innere Struktur, seine durch Montage erzeugte Rhythmik sowie bestimmte Nuancen der Mise-en-scène werden dabei so augenscheinlich, dass die Filme zwar vielleicht ungewohnt, aber doch ganz neu gesehen werden können. Dieses Mal haben wir jedoch eine Veränderung in unserer Konzeption vorgenommen: War es bislang ein Stummfilm-Doppel, das bei der Zusammenstellung auf eine möglichst konflikthafte sowie manchmal assoziative Paarung aus war, werden es jetzt Veranstaltungen mit je einem Film, die dafür aber in ein engeres Verhältnis zueinander treten. Das einhundertjährige Jubiläum der russischen Oktoberrevolution zum Anlass nehmend, präsentieren wir euch ausschließlich sowjetische Produktionen, die mal direkt mal vermittelt dieses bedeutende Ereignis inszenieren und dies sowohl in der Gattung des Spielfilms – dem genuin sowjetischen Genre des »Revolutionsfilms« – als auch in eigenständigen Ausprägungen des frühen Dokumentarfilms. Schon in den bisherigen vierzehn Ausgaben von BALLET MÉCANIQUE waren sowjetische Revolutionsfilme vertreten, so z.B. MUTTER (Wsewolod Pudowkin, UdSSR 1926) oder DAS NEUE BABYLON (Grigori Kosinzew & Leonid Trauberg, UdSSR 1929). Mit dem russischen 1905er Aufstand und der Pariser Kommune 1871 behandelten sie jedoch revolutionäre Erhebungen, die der Oktoberrevolution vorangingen, auf diese aber – so die intendierte Argumentationsstruktur und Wirkweise auf den (zeitgenössischen) Betrachter – eine Vorbildfunktion ausübten. Bei den nun gezeigten Filmen ist diese Abstraktionsleistung nicht mehr erforderlich, denn sie rücken ihren Gegenstand unmittelbarer ins Bild. Die umstürzenden Ereignisse der Oktoberrevolution 1917, die »Zehn Tage, die die Welt erschütterten«, wie der linke Journalist und Zeitzeuge John Reed sie in seinem viel rezipierten Buch betitelte, führten zum Sturz der seit der Februarrevolution 1917 herrschenden »Provisorischen Regierung« und ließen die Bolschewiken um Lenin an die Macht gelangen. Schnell ging auch in der Folge die Filmindustrie in staatliche Hände über und es war ein erklärtes Ziel der Kommunistischen Partei, das neue massentaugliche Medium für die Vermittlung und Propagierung solcher Inhalte zu nutzen, die dem sozialistischen Aufbau der jungen Sowjetunion dienten. Wie wohl in keinem anderen Land stellten sich weite Teile einer jungen Filmavantgarde den politischen Zielen zur Verfügung, bestrebt, für den neuen revolutionären Inhalt ebenso eine sich von der (Film-)Tradition lösende, dynamisch vorwärtsdrängende Form zu finden. Der Darstellung der Oktoberrevolution selbst (und des darauffolgenden Bürgerkrieges), ihrer Voraussetzungen und als positiv verstandenen Folgen, kam dabei eine besonders exponierte Bedeutung zu. Als sich 1927 die Ereignisse zum zehnten Mal jährten, wurden mehrere Filme von der Partei in Auftrag gegeben, unter ihnen: DAS ENDE VON ST. PETERSBURG (Wsewolod Pudowkin, UdSSR 1927) und OKTOBER (Sergej Eisenstein, UdSSR 1927/28). Mit diesen monumentalen Revolutionshymnen, für die die beiden bedeutendsten sowjetischen Regisseure der Zeit eingespannt wurden (und kurioserweise mitunter zeitgleich an selben geschichtsträchtigen Orten drehen mussten), soll auch unsere Reihe beginnen. Pudowkins Epos DAS ENDE VON ST. PETERSBURG, eine Schilderung des Zeitraums von 1913 bis 1917, bildet im September den Auftakt, so wie es auch der historischen Situation entspricht: Eisenstein, der gerade mit den Dreharbeiten zu seinem Film GENERALLINIE (UdSSR 1926/28) (den wir in unserer Reihe bereits 2016 gezeigt haben) beschäftigt war, musste diesen abrupt für das OKTOBER-Projekt, unseren Oktober-Termin, auf Eis legen. Dieses den achtmonatigen Zeitraum zwischen Februar- und Oktoberrevolution behandelnde Filmexperiment war jedoch produktionstechnischen Schwierigkeiten sowie parteipolitischen Restriktionen ausgesetzt (so musste auf Geheiß Stalins Trotzki herausgeschnitten werden), sodass eine Fertigstellung zur Jubiläumsfeier nur in einer provisorischen Fassung gelang. Ein anderer Film wurde zwar pünktlich abgeliefert, jedoch von der Kritik überaus schlecht aufgenommen: der heute nur noch fragmentarisch erhaltene und damit nicht ins Programm integrierte MOSKAU IM OKTOBER (UdSSR 1927), vom ansonsten in der Stummfilmzeit auf komödiantische Stoffe spezialisierten Boris Barnet, dessen quirlig absurden Großstadtfilm DAS HAUS IN DER TRUBNAJA-STRASSE (UdSSR 1928) wir letztes Jahr sahen. Stattdessen wartet der November mit einem großen Klassiker des Revolutionsfilm-Genres auf, der zugleich den Blick in Richtung der Ukraine und der dortigen revolutionären Ereignisse von 1918, genauer der Niederschlagung des proletarischen Aufstands im »Arsenal«-Werk, verschiebt: ARSENAL (Oleksandr Dowschenko, UdSSR 1928). Nachdem der stilistisch wie erzählerisch eigenständige Filmavantgardist Dowschenko erstmals in der BALLET MÉCANIQUE-Reihe vorkommt, widmen wir uns im Dezember einer heute recht in Vergessenheit geratenen Protagonistin: Esther Schub, die Pionierin des aus vorgefundenem Material montierten Dokumentarfilms, dem »Kompilationsfilm« (oder zeitgenössisch gesprochen: »found footage«-Films). Mit DER GROSSE WEG (Esther Schub, UdSSR 1927) lieferte sie einen Vertreter eben dieser dokumentarischen Ausrichtung für die Jubiläumsfeierlichkeiten. Hier werden die Errungenschaften der ersten zehn Jahre mittels einer Synthese aus zielgerichtet-konstruiertem Archivmaterial sowie eigens angefertigten Dokumentarfilmsequenzen propagiert – eine Methode, die derjenigen Dsiga Wertows ähnelt. Dieser hatte zwischen 1923 und 1925 die künstlerische Leitung der staatlich eingesetzten Wochenschau-Reihe »Kino-Prawda« (Kino-Wahrheit) inne. Deren berühmteste, dem Tod und Vermächtnis Lenins gewidmete Folge LENINSKAJA KINOPRAWDA (Dsiga Wertow, UdSSR 1925) soll als Surplus den dokumentarisch ausgerichteten Dezember-Termin abschließen. Zugleich wird damit ein schöner Bogen zum allerersten BALLET MÉCANIQUE-Abend gespannt, an dem es Wertows selbstreflexives Filmmanifest DER MANN MIT DER KAMERA (UdSSR 1929) zu sehen gab. Jenseits des kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhangs stehen die genannten Filme aber auch als bedeutende filmästhetische Werke für sich. Dabei sind ihnen, ob Spiel- oder Dokumentarfilm, bestimmte künstlerische Prinzipien gemein: die Agitation revolutionärer Gehalte; die emphatische Darstellung der Masse; ihre mit Dynamik und zuweilen Pathos versehenen, kollidierenden und neue Zusammenhänge schaffenden Montagefolgen; allgemein ihr Bestreben, den Betrachter sowohl gefühlsmäßig wie intellektuell zu affizieren, diesen im gewissen Sinne zu aktivieren und zu formen, statt als bloßen Konsumenten eines profitablen Filmerzeugnisses zu begreifen. Auf der anderen Seite lässt sich an ihnen aber auch anschaulich die ganze Vielfalt der sowjetischen Stummfilmgeschichte (vor allem in formaler Hinsicht) aufzeigen, die sich abseits der parteidiktierten Inhalte durchsetzt. Eisensteins Experimente mit einer »intellektuellen Montage«; Dowschenkos Versuche Folklore und Mythos mit revolutionärem Inhalt zu verschränken; Pudowkins episch gefühlsbetonte Heldenerzählungen innerhalb eines historisch beglaubigten Rahmens; Schubs und Wertows radikale Ablehnung jeglicher stilisierenden Inszenierung. Bei allen vier Veranstaltungen wird es zudem eine Einführung des Kurators der Reihe Tilman Schumacher geben.

(Texte: Tilman Schumacher // Flyergestaltung: Sophia M. A. Eisenhut)

 

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► 20.09.17, 20:00 Uhr – DAS ENDE VON ST. PETERSBURG / КОНЕЦ САНКТ-ПЕТЕРБУРГА (Wsewolod Pudowkin, UdSSR 1927)

Wie sich Wsewolod Pudowkins vorangegangener Revolutionsfilm MUTTER (UdSSR 1926) – eine Verfilmung des gleichnamigen Romans Maxim Gorkis, der die politische Radikalisierung eines Mütterchens während der revolutionären Ereignisse von 1905 thematisiert – bereits als ein Gegenstück zu Sergej Eisensteins im selben Jahr angesiedelten PANZERKREUZER POTEMKIN (UdSSR 1926) verstehen lässt, so verhält es sich analog mit DAS ENDE VON ST. PETERSBURG (UdSSR 1927) zu dessen OKTOBER (UdSSR 1927/28). Doch wo sich Eisenstein in seiner Schilderung der politischen Umbrüche im Jahre 1917 an der Chronik der Ereignisse orientiert und stark die Masse als agierende Kraft fokussiert, bleibt Pudowkin seiner mehr gefühlsbetonten, psychologisierenden und auf das Einzelindividuum abhebenden Inszenierungsweise treu: Er selbst rückte die im Film vollzogene Verflechtung von fiktionaler Ebene und historisch verbrieftem Rahmen, epischen Massenszenen und Emphase individuellen Schicksals, in die Nähe der großen Romane Tolstois.

img44Dabei lässt sich, wie auch schon in MUTTER oder im darauffolgenden STURM ÜBER ASIEN (UdSSR 1928), die Darstellung einer individuellen Bewusstwerdung hin zur Revolution als Leitmotiv ausmachen; hier exemplarisch vorgeführt an einem armen, den zeitgenössischen Betrachter zur Identifizierung einladenden Bauernburschen vorrevolutionärer Zeit. Bedingt durch die Ereignisse entwickelt er sich von einem einfachen Soldaten und Arbeiter, ja sogar Streikbrecher, hin zum Führer einer Truppenrevolte, Revolutionär und schließlich Beteiligten an der Erstürmung des Winterpalais. Zugleich stellt der Film auch ein, in teils überbordener Metaphorik und Pathetik schwelgendes, Porträt St. Petersburgs dar, seiner monumentalen Denkmäler und Paläste, die für die alte, überwundene Zeit stehen und in deren Rahmen sich die Widersprüche auch mittels kollidierender Montagefolgen verdichten. Enthusiastisch ruft schließlich ein Bolschewik in Anbetracht des Sieges aus: »St. Petersburg gibt es nicht mehr!«

► 11. 10.17, 20:00 Uhr – OKTOBER / ОКТЯБРЬ (Sergej Eisenstein, UdSSR 1927/28)

Wie kein anderer Vertreter der sowjetischen Filmavantgarde steht Sergej Eisenstein für eine Verschränkung filmtheoretischer Überlegungen (maßgeblich zur Filmmontage) mit ihrer praktischen Umsetzung. Wechselseitig wird Theorie im Film erprobt und deren Weiterentwicklung wiederum durch filmisches Gelingen oder Scheitern forciert. Dies gilt generell für seine Filme der 1920er-Jahre, aber vielleicht besonders exponiert für den mit großzügigen finanziellen Mitteln und Tausenden Statisten ausgestatteten Prestigefilm OKTOBER, dessen experimenteller Zug zahlreiche zeitgenössische Kritiker auf die Palme brachte und partiell den Unmut der Partei erregte. Von Leblosigkeit und Formelhaftigkeit sowie dem gemeinen Betrachter rätselhaft bleibendem, wirr-uneinheitlichem Aufbau, war die Rede. Dabei hält sich Eisenstein beim Handlungsablauf seines Films an die Chronologie der Ereignisse des achtmonatigen Zeitraums von der Februar- bis hin zur Oktoberrevolution – d.h. der Sturz der Zarenherrschaft, Lenins Rede am Finnischen Bahnhof, der Juli-Aufstand, die Regierungszeit Kerenskijs mit ihrer restaurativen Politik, schließlich die Erstürmung des Petrograder Winterpalais – verdichtet demnach, verglichen mit Pudowkins Beitrag, das Szenario sogar. img59Diesen authentisch wirkenden (Massen-)Szenen – derart überzeugend, dass z.B. die Winterpalais-Episode in der Folgezeit als »dokumentarisches« Material Wiederverwendung fand – stehen mitunter komplexe Erprobungen einer »intellektuellen Montage« gegenüber: Eisenstein war bestrebt, hier seine Theorie eines »Films der Gedanken und Begriffe« umzusetzen, indem montierte Bilderfolgen es ermöglichen sollen, »direkte Ausdrucksformen für Ideen, Systeme und Vorstellungen« zu bilden, die »ohne den Zwang zur Vermittlung und Paraphrase« auskommen. Eine Zarenstatue wird zum Umsturz gebracht, ehe sie sich wenig später mittels montierter Tricksequenz wieder zu ihrer ursprünglichen Gestalt erhebt: Nach der Pseudo-Revolution restauriert sich alsbald durch die Kerenskij-Herrschaft die zaristische, soll uns diese filmische Metapher versinnbildlichen. Die Revolution soll auch Form werden.

► 15.11.17, 20:00 Uhr –  ARSENAL / АРСЕНАЛ (Oleksandr Dowschenko, UdSSR 1928)

Grotesk verzerrte Gesichter hysterisch lachender Frontsoldaten, die einem Lachgas-Angriff erliegen; ein sprechendes Pferd, das sich beim Bauern über sein Schicksal beschwert; die Niederschlagung eines proletarischen Aufstandes im »Arsenal«-Werk Januar 1918 durch die nationalistische, der bolschewistischen Revolution feindlich gesinnte ukrainische Petljura-Regierung; verschneite Dörfer und ein schräg durchs Bild eilender Zug; schließlich der Kiewer Arbeiter Timosch, dem buchstäblich feindliche Kugeln nichts anhaben können … Revolutionsfilm trifft hier auf Volkslied: ARSENAL, der mit DER VERZAUBERTE WALD (UdSSR 1928) und ERDE (UdSSR 1930) eine lyrische, ländlich geprägte Ukraine-Trilogie bildet, stellt gegenüber den russischen Positionen Eisensteins oder Pudowkins einen formal wie inhaltlich eigenständigen Weg des ukrainischen Regisseurs Oleksandr Dowschenko dar.

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Romantisches Sentiment geht in diesem teils überbordenden Panorama ukrainischer Revolutionsgeschichte mit Folklore und kämpferischem Pathos einher. Dabei ist stets das bis dato im sowjetischen Film nicht übliche, regionale Element präsent; der mitunter überhöhten Heimat des Regisseurs und ihrer Bewohner wird ein filmisches Denkmal gesetzt. Im Tonfall changiert ARSENAL dabei immer wieder zwischen beißendem Sarkasmus, symbolisch-verdichteter Dramatik und krassen, geradezu wütend-schonungslosen Bildern physischen Leids, vor allem die eingangs geschilderten Kriegsgreuel betreffend. Stilistisch erreicht das Ganze dabei ebenso keine schlüssige Einheit – was dessen Originalität aber keinen Abbruch tut. Dynamische Montagefolgen, in denen gesellschaftliche Gegensätze visuell kollidieren, und schwindelerregende Kameraperspektiven stehen neben leiseren Impressionen oder extremer, an den Expressionismus gemahnender Ausdrucksverdichtung. Sinnlich-konkrete Schilderungen auf der einen Seite, abstrakte, mehr an einen Märchenhelden als an einen glaubhaften Menschen erinnernde Arbeiterfigur, auf der anderen. Kündigt sich hier schon die schablonenhafte Ästhetik des »positiven Helden« der 1930er-Jahre an, wie die Filmhistoriker Enno Patalas und Ulrich Gregor vermuten?

► 6. 12.17, 20:00 Uhr – DER GROSSE WEG / ВЕЛИКИЙ ПУТЬ (Esther Schub, UdSSR 1927) + Bonusfilm: LENINSKAJA KINOPRAWDA / ЛЕНИНСКАЯ КИНОПРАВДА (Dsiga Wertow, UdSSR 1925)

img34 »Dank der Arbeit von Esther Schub werden die einzelnen Stückchen der Alltäglichkeiten, die Reste der Chronik, die offiziellen, scheinbar so unnützen Aufnahmen zu erschütternden Dokumenten und herrlichen Materialien für zusammengefaßte historische Kino-Artikel, die durchleuchtet sind von polemischem Feuer und echter Begeisterung«, schrieb der avantgardistische Schriftsteller und Theoretiker Sergej Tretjakow über die Pionierin des sogenannten Kompilationsfilms, deren zweiter origineller Entwurf DER GROSSE WEG darstellt. Vorangegangen ist ihm DER FALL DES HAUSES ROMANOW (UdSSR 1927), der anlässlich des Februarrevolution-Jubiläums aus vorgefundenem Archivmaterial wie Wochenschauen aber auch Privataufnahmen der Zarenfamilie einen agitatorisch verdichteten, montagehaft zugespitzten Bericht über den Sturz des Zarenreichs und seiner Umstände gibt. Den großen Weg stellt hingegen die Zeit zwischen Oktoberrevolution und dem Erscheinungsjahr 1927 dar: Wieder auf authentischem, nicht inszenierten Archivmaterial beharrend – diesmal aber um einige Ergänzungsaufnahmen bereichert – wird ein parteiisch-agitierendes Resümee der ersten zehn Jahre gezogen (forcierte Technisierung, ausgebautes Bildungswesen, Aufbau auf dem Land etc.), in dem unter anderem bis dato nie gezeigte Aufnahmen Lenins präsentiert werden. Dabei geht es wiederum auch hier nicht um eine bloße Aneinanderreihung der Wirklichkeitsfragmente, sondern darum, sie inszenatorisch mittels Montage zu interpretieren; letztlich wie Tretjakow schreibt, mit Pathos und Enthusiasmus sowie politischer Stoßrichtung zu versehen. Eines ebenso konstruktivistischen Ansatzes des Dokumentarischen bediente sich Dsiga Wertow, der zwischen 1923 und 1925 die künstlerische Leitung der staatlich in Auftrag gegebenen Reihe »Kino-Prawda« (»Kino-Wahrheit«, was sich am Partei-Blatt »Prawda« anlehnt) innehatte. Unter den dreiundzwanzig erschienenen Ausgaben, die einen neuen Typus agitatorischer Wochenschau durch ihre montagefixierte, experimentelle Form vorstellten, ist die Lenins Tod und seinem Vermächtnis gewidmete LENINSKAJA KINOPRAWDA die berühmteste.


DEFA-STIFTUNG – Oktoberrevolution im sowjetischen Nachkriegsfilm

Luru Kino in der Spinnerei, Spinnereistraße 7, 04179 Leipzig.

Anlässlich des einhundertjährigen Jubiläums der russischen Oktoberrevolution bieten wir euch in Kooperation mit dem DEFA-Filmverleih im LURU-Kino auf der Spinnerei ein Programm sowjetischer Produktionen, die dieses welthistorisch bedeutende wie einschneidende Ereignis (mal direkt, mal vermittelt) zum Thema haben. Der dabei abgesteckte Zeitraum umfasst Werke der Nachkriegszeit von den 1950er bis 1980er Jahren. Neben den großen Stummfilmen der 1920er Jahre, die dem sowjetischen Betrachter zeitnah die Ereignisse ins Bild sowie Gedächtnis rückten – und die wir in der parallel laufenden neuen Ausgabe der Ballet Mécanique-Stummfilmreihe für euch zusammengestellt haben! – ist auch in der Nachkriegszeit das Sujet immer wieder facettenreich aufgegriffen worden. Dies spiegelt unsere Auswahl durch das Nebeneinander von staatstragendem Monumental- wie indiziertem Nischenwerk, von farbenprächtigem Melodram, experimentellem Psychogram bis hin zu klamaukiger Satire wider. Es ist uns dabei wie immer ein besonderes Anliegen, bei der Auswahl an filmhistorisch relevanten und mitunter schwer in angemessener Qualität verfügbaren Werken auch die Materialität und ästhetische Eigenheit des aus dem Kino-Alltag verschwundenen 35mm-Materials zu würdigen. Wir freuen uns deshalb, in Zeiten der vorrangig digitalen Vorführpraxis euch hier immer sonntags ein analoges, vierteiliges Kontrastprogramm präsentieren zu können. Zusammen mit der erwähnten Stummfilmreihe habt ihr somit die Gelegenheit, euch in dichter Abfolge einen umfassenden Überblick zur filmischen Reflexion der Oktoberrevolution in der UdSSR zu verschaffen.

► 24. September: DER STILLE DON / ТИХИЙ ДОН (Sergej Gerassimow, UdSSR 1957)

Sergej Gerassimows Verfilmung des epochalen, vierbändigen Romans »Der stille Don« (1928-1940) von Michail Scholochow – eines der bedeutendsten Werke russischer Literatur des 20. Jahrhunderts, das dem Autor den Literaturnobelpreis bescherte – ist nicht minder kolossal als seine Vorlage: dreiteilig; auf insgesamt knapp sechs Stunden wird die Geschichte der Donkosaken, verdichtet auf das abgelegene Kosakendörfchen Tatarsk und die Familie Melechow, während der großen Umbruchszeit zwischen 1913 und 1922 geschildert. Der Stille Don

Der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution, der folgende Bürgerkrieg mit seinen Kämpfen der »Weißen« gegen die Rote Armee, die Bildung des bewaffneten Kosakenwiderstands gegen die bolschewistische Machtübernahme und Einflussnahme auf ihr Land; all dies bildet den geschichtlichen, facetten- wie farbenreichen Hintergrund, vor dem sich die Lebensgeschichte des tragischen Helden Grigori Melechow abspielt. Im Verlauf dieser Geschichte, die sich von anfänglicher Idylle immer mehr ins Tragische und Düstere verschiebt, steht Grigori zunehmend zwischen den sprichwörtlichen Stühlen: Gewisse Sympathien für die Anliegen der Roten, vor allem in der Kriegszeit, aber auch die Sehnsucht nach der althergebrachten ländlichen Heimat, lassen ihn die großen politischen Konflikte der Zeit am eigenen Leib erfahren. Sowieso bildet sich in dem am majestätischen Don gelegenen Kosakendorf die Dramatik der Zeit en miniature ab: Die Front zwischen Weiß und Rot verläuft vermittelt über einzelne typische Vertreter des jeweiligen Lagers nun auch durch das Dorf selbst. Neben allen Kämpfen ist DER STILLE DON aber auch ein großes Melodram über Liebe, Tod und Verrat, welches sich ausgiebig Zeit lässt, ein plastisches sowie eher unschematisches Bild von Land und Leuten zu zeichnen.

► 8. Oktober: DIE KOMMISSARIN / КОМИССАР (Aleksandr Askoldow, UdSSR 1967)

Aleksandr Askoldows DIE KOMMISSARIN basiert auf der Erzählung »In der Stadt Berdytschiw« (1934) von Wassili Grossman, die von damaligen Größen der sowjetischen Literatur wie Maxim Gorki oder Mikhail Bulgakow gepriesen wurde. Dies war der in den 1960er Jahren entstandenen Verfilmung allerdings ganz und gar nicht vergönnt: Für zwanzig Jahre verboten (letztlich erst zum 50. Revolutionsjubiläum 1987 präsentiert), bedeutete sie für den Regisseur ein Berufsverbot sowie den Ausschluss aus der Kommunistischen Partei. Die Gründe hierfür liegen in der schonungslosen Verhandlung von Themen, die ansonsten in der offiziellen Darstellung der Oktoberrevolution und des folgenden Bürgerkriegs keinen Platz fanden.Die Kommissarin

Nachdem die Politkommissarin der Roten Armee Klawdia Wawilowa während der Bürgerkriegsunruhen ihrem Vorgesetzten gesteht, dass sie im fortgeschrittenen Monat schwanger ist, lassen sie ihre Kampfgefährten, die sich vor den nahenden Weißen zurückziehen müssen, bei einer ärmlichen jüdischen Familie im besagten Städtchen Berdytschiw zurück. Die vielköpfige Familie nimmt sie nach anfänglichem Widerwillen herzlich in ihren Reihen auf. Klawdia erlebt eine kurze Zeit des Aufatmens von den Kriegswirren, ja findet sich sogar in die von ihr mit Angst erwartete Mutterschaft ein. Zunehmend wird sie jedoch mit der Furcht der Magasaniks konfrontiert, Opfer der zu dieser Zeit an der Tagesordnung stehenden antisemitischen Pogrome durch Weißgardisten zu werden. In einer alptraumhaften Vision – ein Stilmittel, dass der Film mehrfach in seine ansonsten realitätsnahe Schilderung einfließen lässt – sieht Klawdia sogar die Vernichtung ukrainischer Juden während des Zweiten Weltkriegs voraus. Neben einem solch pessimistisch, den üblichen Heroismus negierendem Grundton, ist es vor allem das psychologisch differenzierte Porträt einer Frau, die sich zwischen ihrer politischen Aufgabe und der Sehnsucht nach einem unbeschwerten Privatleben hin und hergerissen fühlt, das diesen Film zu einer spannenden Wiederentdeckung macht.

► 12. November: LEUCHTE, MEIN STERN, LEUCHTE /  ГОРИ, ГОРИ, МОЯ ЗВЕЗДА (Aleksandr Mitta, UdSSR 1970)

Ein naiv, lebensfroher Wanderkünstler zieht, während um ihn herum der Bürgerkrieg tobt, durch die südrussische Provinz und versucht, mit einer eigenwilligen Shakespeare-Adaption wie auch mit einem selbst verfassten Stück zur Jeanne d’Arc erzieherisch auf die einfachen Leute einzuwirken. Nicht umsonst gibt er sich schließlich den Künstlernamen Iskremas – die Abkürzung für »Iskusstvo revoljucionnym massam«, zu deutsch »Kunst und Revolution für die Massen« (eine satirische Spitze gegen die Abkürzungsmanie sowjetischer Prägung). Überall herrscht Chaos und Umbruch: die Roten gegen die Weißen, die Roten gegen die »Grünen«; die hohe, ehrfurchtgebietende Kunst des Theaters gegen die Trivialität des lokalen Kinematographen, der Iskremas das sensationslustige Publikum immer wieder streitig macht. Im Folgenden verbündet er sich mit einem einfachen Bauernmädchen, das, ohne auch nur das geringste Talent aufzuweisen, seine Jeanne d’Arc verkörpern muss, und dem geheimnisvollen Dorfmaler, der in ebenso naiver Manier seine inneren, folkloristisch gefärbten Visionen farbenfroh auf Häuserwände bringt. In die sonst eher märchenhafte Atmosphäre dieser tragikkomischen Reflexion auf die Stellung des Künstlers in revolutionären Zeiten, seine Möglichkeiten aber auch Gefährdungen, bricht immer wieder das zeitgeschichtlich reale Grauen herein: Hinrichtungen und heftige Gefechte sind auch hier nicht ausgespart.Leuchte Leuchte

Die Rolle des Iskremas sollte eigentlich Rolan Bykow übernehmen, den wir bereits im Oktober als jüdisches Familienoberhaupt in DIE KOMMISSARIN sehen konnten. Da dieser Film aber von offizieller Stelle aus in Ungnade fiel, gut zwanzig Jahre verboten wurde und als »unsowjetisch« galt, durfte er, als »unehrenhaft« eingestuft, die Rolle nicht antreten. Dem Film war ein anderes Schicksal beschieden: schnell avancierte er zum Publikums- wie Kritikererfolg.

► 3. Dezember: AGONIE / АГОНИЯ (Elem Klimow, UdSSR 1981)

AgonieDer russische Regisseur Elem Klimow ist den meisten vor allem durch seinen schonungslosen Kriegsfilm »Geh und sieh« (1985) bekannt, doch drehte er Jahre zuvor bereits einen Film mit historischem Sujet, der innerhalb der sowjetischen Filmgeschichte eine ebenso bedeutende Stellung einnimmt: AGONIE. 1974 abgeschlossen, durfte dieser zensurbedingt erst Anfang der 1980er Jahre im Ausland und wenig später in der UdSSR anlaufen. Dies hängt mit der heiklen Darstellung eines an sich staatskonformen und gerne bedienten Themas zusammen: Namentlich die so opulente wie morbide Schilderung des Schicksals der russischen Romanow-Dynastie am Vorabend der Revolution in einem von Hunger wie Korruption geplagten Land; zugleich aber das eigenwillige Porträt des selbsternannten Wunderheilers und Wanderpredigers Grigorij Rasputin, einer stark legendenumrankten wie dämonisch überhöhten Persönlichkeit dieser Zeit. Der ehemalige Bauer schwingt sich zu einem Mächtigen St. Petersburgs auf; übt nicht unbedeutenden Einfluss auf die instabile Zarenfamilie aus; spinnt Intrigen und feiert Orgien … entwickelt sich schließlich vom hofierten »Heiligen« zum gefürchteten »Ungeheuer«Seiner Amoral entspricht dabei symbolisch der Todeskampf der als dekadent und obsolet verstandenen Monarchie, ihr Niedergang erfolgt mit historischer Notwendigkeit – soweit so bekannt. Diese gängige, wenn auch in ihrer Drastik neuartige Betrachtung vorrevolutionärer Zeit (bemerkenswert sind darüberhinaus die in die fiktionalisierte Erzählung einfließenden Originalaufnahmen!) geht aber mit ungewohnten Zwischentönen einher. So ist z.B. Nikolaj II. ein durch und durch schwacher Mensch, der sich vom falschen Propheten in den Bann ziehen lässt und eine vergleichsweise sensible, vielschichtige Charakterisierung erfährt. Letztlich ist es aber vor allem die Agonie – das dahinsiechende Zarenreich –, das als ein Kommentar zur gegenwärtigen Lage der UdSSR selbst verstanden wurde …